Bodenhaftung

Wir haben uns wieder aufgerappelt. Immer am Boden zerstört sein oder heulen oder nichts tun und denken und machen geht auch nicht lange. Wir lachen wieder und albern rum und ich habe wieder leckere Körnerbrötchen gebacken und unser Frühstück hat ewig gedauert, Zeitung und Telefonat mit meiner Schwester inkludiert.
Und eben habe ich T. die Haare geschnitten. Ich mache das schon ne ganze Weile. Die Frisur mit eher längerem Haar kam weg, das Leben ändert sich eben. Und es spart Geld für den Frisör und all das Gel, Shampoo etc., um Halt zu geben für etwas, was zusätzlich zu dünn nun auch noch in der Zahl weniger und ein bisl mickeriger war. Mittlerweile, nach zehn Monaten in ultrakurz, ist seine Haarpracht wieder fester und vor allem zahlreicher. Sieht gut aus. Find ich. Und Halt finden die Haare in sich selbst. Sehr löblich. Jedes steht wie ein Halm steil hinauf und bildet einen schönen Rasen gemeinsam mit den anderen. Oder einen Igel.

Wir finden auch Halt und das nicht nur in uns selbst. Mittlerweile wissen es alle in der Familie und auch einige Freunde. Sie senden alle positive Gedanken, Liebe und gute Wünsche.

Wir sind stabil. Es geht uns gut.
Wir schaffen das.

Ein anderes Medikament gibt es nicht für mich, jedenfalls nicht aktuell. Die Mutationen- ich habe ja vier Stück an der Zahl- sind dafür nicht empfänglich. Es wird zunächst eine stereotaktische Bestrahlung werden. Strahlen auf Lunge und den Lymphknoten. Und natürlich Strahlen auf die Umgebung, das lässt sich nicht ändern.
Afatinib pausiere ich schon. Sonst geht ja gleich alles völlig kaputt und selbst gesunde Zellen heilen nicht.
Dafür nehme ich das DCA und Artemisinin wieder. Oder weiter, hatte nur mit Artemisinin pausiert. Das soll die Zellen in Schach halten.
Ich hatte keine Biopsie davor. Also dürfte es nicht so schlimm werden wie letztes Mal.
Und ich habe einen guten Selenspiegel, den ich weiter pusche, als Schleimhautschutz. Aber das habe ich letztes Mal auch gemacht.
Ich stehe auch gut im Futter, auch wenn es 3-4 kg weniger sind als am Anfang. Wenn es mit dem Essen nicht gehen sollte, faste ich eben. Das soll auch gut sein und vielleicht nervt es die Metastasenzellen und sie werden empfindlicher für die Bestrahlung und all das andere. Und scheren sich zum Teufel. Und es schont meine Speiseröhre.

Ich schaff das.

Morgen ist erstmal das Planungs-CT und ich werde wieder markiert. Schwarze und rote Kreuze werden auf den Brustkorb geklebt. Da. Da ist er drin. Bzw. sie sind da drin, es sind ja mehrere. Obwohl ja nur damit nur die potentielle Einstellung markiert wird , nicht die Metastasen. Aber schwarze Kreuze leuchten mich an. Selbst wenn ich es schaffe ohne einen Gedanken an den ganzen Müll aufzustehen, wird es mich spätestens im Bad treffen. Vielleicht verhänge ich den Badspiegel. T. muss sich dann ohne mich rasieren. Aber der Behang erinnert mich ja auch, also Quatsch. Die letzte Markierung habe ich ja abgerissen, die Pflaster zerknüllt zu klebrigen Klumpen und die Bestrahlung abgesagt.
Das Wort mit P ignoriere ich jetzt. Das stimmt so nicht.
Es ist nicht palliativ.
Nein.
Und danach ist Weihnachten und ich erhole mich und werde irgendwann wieder Afatinib nehmen und erstmal ne Weile Ruhe haben.
Ja, so wird es sein.

Diese ganzen Coronamaßnahmen konterkarieren ein gemeinsames Weihnachten oder Silvester allerdings. Österreich schickt seine Leute in Quarantäne, wenn sie wieder zurück aus Deutschland wollen. D. wohnt mit F. und L. in Wien. P. in Marburg ist aktuell noch ziemlich erkältet, aber sie wird kommen, ein Glück. Ich habe sie seit Anfang September nicht gesehen. Und F. kommt schon nächste Woche, da freu ich mich riesig. Außerdem hat sie Geburtstag. Mein kleines Mäusi wird schon 23 Jahre alt. Wo ist die Zeit hin?

Ich will noch Geschenke machen, möchte Freude bereiten. Für die Mütter habe ich schon etwas Feines gezaubert. Ich hoffe, es gefällt ihnen. Und vor allem hoffe ich, dass ich mit den anderen Sachen noch in der Zeit bin und es schaffe, auch kräftemäßig.

Farbtechnisch sieht es heute aus wie an den anderen Tagen, alles grau. Mausgrauer und manchmal antrazit, novembergrün und braun, selten leuchtend gelbe Blätter. Der Apfelbaum hat viele Blätter verloren, braun und mattgelb, manche verschrumpelt, sie liegen lose auf dem Rasen, aber er ist im Grunde noch grün, wenn auch etwas mattes grün. Im Dezember.

Doch unsere Stimmung ist besser, wir lächeln uns wieder an und leuchten und leben jetzt.
Immer nur jetzt.

Und das ist so schön.
Das Leben.
Leben.