Von freien und (ent-)zugigen Zeiten

Ich bin heute den vierten Tag frei von Drogen, genauer von dem Opiat Oxycodon.
Ich bin frei von Krebs und frei von vernebelnden Drogen.
Wundervoll!
Und ich bin auch frei von Hausarbeit, die mochte ich noch nie! Der Genuss schöner Nebeneffekte bringt mich zum Lächeln. Bzgl. des ungeliebten Haushalts beginne ich aber schon mit einigen Kleinigkeiten, welche aktuell noch nahe Hochleistungssport sind, wie z. B. Geschirrspüler leerräumen. Selbiges ist eine hoch komplexe Angelegenheit unter Nutzung verschiedenster Bewegungsabläufe und Muskeln, im ersten Leben nie bedacht und für völlig selbstverständlich hingenommen. Ich muss mich bücken, eine „schwere“ Tasse fassen, damit aufrichten, umdrehen, drei Schritte gehen, den Arm hochstrecken und die Tasse im Schrank abstellen, umdrehen …. Geschirrspüler leer räumen als sportliche Betätigung- unfassbar!
Aber ich mache das und es geht auch schon viel besser; wie sonst sollen meine Rückenmuskeln stärker werden?
Natürlich könnte ich auch alle paar Tage eine halbe Stunde irgendwohin fahren, dort Bewegungsübungen/ Gymnastik in einer Gruppe machen, Armkreisen, Füsse wackeln und ähnliches. Auch sinnvoll, ja. Alle Leute der Gruppe haben unterschiedliche Probleme und Erkrankungen und wir gymnastizieren uns im Reha- Sport mit mehr oder weniger viel Speck auf den Rippen und vor dem Bauch, Diabetes, Gelenkproblemen und maroden Herzkranzgefäßen, nach Operationen, Krebstherapien und anderen das Leben verändernden Einschränkungen. Bloß wo bleibt meine spezifische Behandlung?

Meine linke Rückenseite, die vergnubbelte Rippe, das steife Zwerchfell, die auf Null-Bock umgeschalteten langen Rückenmuskeln? Letztere hatten in den vielen Wochen des Liegens zuvor ihre Aktivität gegen Null gefahren und sich in eine Art Winterschlaf begeben, allerdings haben sie das Erwachen verpasst und wurden immer kleiner und schlaffer und völlig unfähig, länger als wenige Minuten mitzumachen. Sie wehren sich sehr zügig- das gegen Aktivität geschaltete Abwehrsystem scheint nicht zu schlafen, einige Triggerpunkte sind extrem flott dabei, wenn es um Ausstrahlung von Schmerzsignalen geht. Abgesehen von den Triggerpunkten hatten sich übrigens nahezu alle Muskeln dem Zustand der Inaktivität und Verschmächtigung beängstigend rasch hingegeben, was erklärt, warum so eine normale Tasse im Spüler 2kg wiegt.
Nach den 30 min (oder sind es 45 min? ich weiß gar nicht genau) Rehasport mache ich mich dann auf den Heimweg. Dieses ganze Prozedere habe ich für mich abgewählt. Wenn ich fitter bin- wobei ich auch Gymnastik mache, mich dehne und atme und täglich einen phänomenal riesigen inneren Schweinehund bezwinge (ob der an all den verschwundenen Muskeln gewachsen ist?).

Mein Körper sieht so anders aus als früher. Erschreckend dünn, seit der Operation vor 3 Monaten habe ich 4 kg abgenommen (oder 5kg?, mit all dem Wasser in mir während der Chemo schwankte mein Gewicht sogar um 10kg), was nicht viel klingt, aber ich war vorher schlank und relativ gut trainiert, war zeitlebens stolz auf meinen knackigen Hintern und Muskeln an Beinen und Armen.
Es gibt soooo schöne erotische Fotos von mir, noch vom Frühjahr 2018; ich liebe das Bild mit den Brüsten, welche meine sind und nicht die irgendeines Models, und auch meinen Popo.
Jetzt ist da nix mit Hintern und nix mit Muskeln, aber etwas schlapperiger Haut am Bauch, alles ist weich und schwach.
Und dann sind da noch Narben. Mehrere Narben. Meine Haut findet übrigens Pflaster aller Art und auch Nahtmaterial doof, es wird alles entsorgt, Wochen später tauchen blaue Fäden auf aus der Tiefe und drängen mit etwas breitflächigen Entzündungen nach oben, dummerweise am Dekolleté, wo der Port saß. Derlei Dinge wusste ich gar nicht über mich. „Haben sie Unverträglichkeiten?“, keine Ahnung, hatte bisher keinen Kontakt dazu, war ja gesund. Jetzt kann ich die Frage aber gut beantworten und nicht nur mit einem Schulterzucken. Seltsamer Weise stört mich mein Äußeres nicht so sehr, wie ich gedacht hätte, die Prioritäten sind wirklich verschoben, vermutlich will ich es aber wieder mal einfach nicht akzeptieren, aber ich muss ja auch nicht, ich habe Glück, ich kann es ändern und kann das selbst versuchen. Wie weit, werde ich ja sehen.

Und auch das mit der Akzeptanz braucht Zeit.
Geduld.
Alle haben mir immer gesagt, ich bräuchte Geduld. Ich konnte das gar nicht mehr hören, es wurde mein zweiter Vorname. Geduld. Geduld. Geduld! Grrrr! Aber jetzt bin ich geduldig und übe zäh. Ich will zurück soweit wie möglich. Zurück in mein Leben, immerhin habe ich ja eines. Es ist ein anderes Leben, ich lerne es erst kennen, aber ich habe eines. Ein neues Leben. Ein zweites. Und ich muss ja auch ganz banal irgendwie im Alltag existieren- und ich werde existieren, ich werde mich nicht von so einem blöden Krebs besiegen lassen, ich bin noch viel zu jung! Ich lasse nicht zu, dass er wiederkommt.

Doch kurz zurück zu den Opiaten. Die Opiate hatte ich zwingend benötigt wegen der massiven, alles tötenden Schmerzen, deren Ursachen ich aber nicht jetzt erzählen möchte. Sie haben mir die Schmerzen genommen und viel Erinnerung, die Fähigkeit, klar oder gar analytisch zu denken, mich zu erinnern, ein gewisses Tempo zu haben, alles war träge und zäh und wie in einem festen Schleim verfangen. „Wann war was?“ Ich weiß nicht genau, gestern? Steht alles im Beipackzettel, häufig, weniger häufig, selten. Aber manchmal muss man im Leben den Teufel mit dem Beelzebub austreiben und das ist gelungen. Ohne die Opiate hätte ich die Hölle der letzten Monate nicht geschafft- genauso wenig wie ohne die liebevolle Fürsorge besonders meines Mannes, aber auch meiner beiden Mädels, meiner Schwester, meiner Eltern …. und auch nicht ohne all die Zusprüche und kurzer oder längerer Nachrichten oder Anrufe lieber Freunde und Bekannte. Ich wusste gar nicht, dass mich so viele Menschen mögen. Im Unterschied zu den Opiaten brauche ich diese Menschen auch weiterhin, wobei ich durchaus wieder klar bei Verstand bin und mit jedem Tag mehr Mobilisation optimistischer in die Zukunft blicke. Gestern war ich nahezu euphorisch und hatte prompt ein schlechtes Gewissen. Mir wurde aber versichert, das sei völliger Unsinn, ich hätte ein Recht darauf.

Heute bin ich glücklich. Ja. Und ich lebe mein Leben. Mein Glück. Meine Liebe.

Im Zuge der Opiatreduktion wurde ich wieder mehr ich selbst. Zuvor konnte ich nur schwer Zusammenhänge wiedergeben bzw. sie überhaupt fetsstellen, alles verschwand in einem Topf und wurde zu einer zäe. Die Zeiten

6 Monate später

Im Hier und Jetzt ist es Anfang März 2019. Ich lebe seit einem halben Jahr mit der Diagnose Krebs. Lungenkrebs. Für Interessierte unter Euch: es handelt sich um ein Adenokarzinom der Lunge mit zwei nicht so häufigen EGFR- Mutationen, welches gern bei Wenig- oder Nichtrauchern auftritt. Der Tumor war im linken Unterlappen der Lunge und es waren mehrere Lymphknoten links betroffen. Glücklicherweise zeigte sich weder auf der rechten Seite noch im übrigen Körper ein Zeichen des Krebes, also keine Metastasen.

Heute fühle ich mich ganz gut, die letzten Stunden des Opiatentzuges liegen hinter mir mit Gänsehaut und frieren und schwitzen, aber das ist hoffentlich vorbei. Die Schmerzen sind weg und falls sie doch bei bestimmten Bewegungen in den Rippen auftreten, benötige ich kein starkes Opiat. Ich habe mittlerweile wieder gehen gelernt, bin gestern viele Stufen zur Steuerberaterin in den dritten Stock gestiegen und oben angekommen war meine Kondition zwar mit einem großen Fragezeichen zu sehen, aber mein Mann hat mich bewundernd angeschaut und gestaunt, mein Puls war bei 91/ Minute (in Ruhe ist er meist 70-80/ Minute) und meine Sauerstoffsättigung hat mir alle Ehre gemacht mit 99 Prozent. Zudem konnte ich mich danach sehr lange konzentrieren und meine Zukunft durchdenken und besprechen. Denn eine Zukunft will ich haben. Es gibt so vieles, was ich noch möchte.

Und damit mich niemand missversteht und sich wundert, hier eine kurze Aufklärung über meinen aktuellen Stand: ich habe nach einer Bestrahlung mit zeitgleicher Chemotherapie (im Sept/ Okt 2018) eine OP mit kompletter Entfernung der linken Lunge (im November 2018) gehabt. Das ist jetzt etwas über 3 Monate her. Der Tumor wurde vollständig mitsamt den Lymphknotenmetastasen im Mediastinum (dem Raum zwischen den Lungen um das Herz und die großen Leitungsbahnen der Blutgefäße etc. herum) entfernt. Dabei wurde auch der Nervus recurrens, der Nerv, welche u. a. für die Stimmbildung wichtig ist, so verletzt oder entfernt, dass ich eine leise, hauchige Stimme habe, welche mich unfassbar viel Kraft kostet, die ich gar nicht unbedingt habe.

In den folgenden Beiträgen will ich das Ganze aber etwas genauer schreiben.

Aber heute gehe ich erstmal zu einem wundervollen Candlelightdinner mit meinem wundervollen Mann. Vor genau einem Jahr habe ich von ihm einen Heiratsantrag erhalten:

Rückblende:

Am 08.03.18 hatte mir mein Liebster einen richtigen Antrag gemacht, einen Heiratsantrag, in „unserem“ Cafe, wo wir uns kennengelernt hatten. Ich sollte mir etwas „Normales“ anziehen nach der Arbeit und dann gäbe es eine Überraschung. Meine jüngere Tochter P. war beim Hausverlassen dabei. Mein zukünftiger Ehemann T. wirkte ganz doll aufgeregt und hatte feuchte Hände. Und P. wirkte dermaßen betont unauffällig, das ich dachte, sie heckt etwas aus und wartet, dass wir das Haus endlich verlassen. Sie verabschiedete uns mit freudigem Lächeln. Im Café angekommen, orderte T. eine dunkelrote Rose, welche nicht wie verabredete auf den Tisch stand. Da habe ich ja einen Verdacht. Er wirkte so anders  … Und am Tisch sitzend hat er mir dann einen Heiratsantrag gemacht, er hielt meine Hand , hatte strahlende leuchtende Augen und zitterte etwas. T. hat mir ganz viel gesagt, ich habe es gar nicht mehr zusammenbringen können. Er möchte sein Leben mit mir verbringen, ich sei die erste Frau, bei der er sich ganz sicher sei. Aber die Details schreibe ich natürlich nicht, das bleibt mein, nein unser Moment. Ich liebe ihn so sehr! Und natürlich habe ich „Ja“ gesagt.

Aller Anfang ist im Irgendwann

Es ist schwer, den Anfang zu finden. Ich möchte schreiben, mein Erleben verarbeiten, vielleicht anderen Mut machen. Das wäre schön. Fluchen. Verfluchen. Danke sagen.  Danke für all die Liebe und Zuwendung, für die Fürsprache, Freundschaft und all das Mutmachen.

Aber wie und wo fange ich an, wo ist überhaupt der Anfang? Vor 20 Jahren? Vor 12 Jahren oder vor einem? Oder Ende August 2018? Oder am ersten Therapietag?  Wie schreibe ich bloss am Besten. Ich werde üben und vielleicht besser, während ich schreibe, es ist ein Blog, kein Schulaufsatz, den ich einer mir nicht wohlgesinnten Lehrerin geben muss. Aber, verehrte Leserschaft, nehmt mir bitte nichts übel! Ich bin kein Profi. Ich versuche es einfach und schreibe, sortiere dabei und gebe all das Schöne und Schreckliche weiter, all die mir entgegengebrachte Liebe, mit all dem Schrecken und dem Schock und der irgendwann wachsenden Kraft und Wut (Oder war es bockig?). Ich bin nur eine von vielen Kranken, ein kleines Menschlein auf diesem immer kranker werdenden Planeten, aber für mich war und ist alles existenziell, ich denke wie wohl die meisten da ganz egoistisch und vor allem in Sorge um meine Familie. Und ich merke, wie sich die Welt geändert hat, die Prioritäten sind verschoben.

Ich zunächst fange ich am Anfang an. An einem Anfang. Ich nehm als Anfang Ende August.

Krebs.

Ich habe Krebs.

Nein.

Das kann nicht sein.

Ich nicht. Die anderen vielleicht, viele sogar, ich kenne sie. Sie tun mir auch leid, alle, sehr sogar, es ist schrecklich, was mit ihnen passiert. Ich habe auch geholfen, beruflich und privat, hatte schreckliche Geschichten gehört und erlebt mit grauenvollem Leid auch bei anderen Erkrankungen, habe all mein Können und Wissen eingesetzt, um den Kranken zu helfen, ihren Familien zu helfen. Aber es waren immer die anderen. Ich war immer auf der anderen Seite vom Bett. Auf der sicheren Seite. Auf einer Seite sind die Kranken, auf der anderen die Gesunden, die Pfleger und Ärzte und Helfer. Ich bin auf der anderen Seite. Auf der gesunden.

Nein, ich nicht. Ich habe keinen Krebs.

Wenn ich in den Spiegel seh, sehe ich mein Spiegelbild. Ich sehe aus wie immer. Bloß aus den Augen im Spiegel blickt mich etwas an, was nie zuvor da war. Etwas mattes, flaches, schemenhaftes. Breitet sich aus und lähmt das Gesicht im Spiegel, welches gar nicht lächeln kann trotz aller Versuche gegenüber, es wird nur eine Grimasse.

Also, ich, ich habe keinen Krebs. Unmöglich. Und vor allem unfair!

Letztlich ist alles ein Anfang und alles ein Ende, eine Tür geht zu und eine andere geht auf. Wir erkennen aber nicht alle Türen, insbesondere die offenen sind schwer zu finden. Scheinbar ist plötzlich jeder Weg versperrt und es gibt keinen Ausweg, alles ist dunkel und unklar, dabei haben wir vielleicht nur die Augen geschlossen, kein Licht dringt durch die Lider, oder wir sind unfähig, die neuen Türen zu erkennen, weil sie im Strudel der Ereignisse mitfliegen, gefangen in der dunklen Abwärtsspirale, die unweigerlich in die Tiefe führt, kein Halten, kein Griff zum Festhalten, keine Rettungsleine, bloß Grauen und würgende Angst und eine große feste Mauer drumrum, jeder Gedanke einzeln eingemauert, unmöglich, eine Verbindung herzustellen, unmöglich zu denken und zu überlegen, keine Chance. Die Zeit steht still, keine Bewegung, alles steif und starr, keine Gedanken, nicht einmal ein Kreisen, alles bleibt isoliert in festen engen Kammern wie einzeln verpackte Bausteine, unsinnig, was aber nicht bemerkt wird, da auch dies ein Gedankenprozess ist. Bloß die Augen im Spiegelbild scheinen eine Verbindung in die verbotene Kammer zu haben. Die Mauer, groß, erdrückend, beengend, immer enger werdend, sie verhindert, das auch nur ein bisschen Licht ins Dunkel kommt und mit dem Licht vielleicht Klarheit. Jeder sorgfältig verpackte Gedanke- bloß keine Zusammenhänge ermöglichen, keine Verbindungen, das Dunkel ermöglicht es!- liegen als Steinhaufen im Magen und sorgen für permanente Übelkeit, der Strick um den Hals für Würgegefühl, das Eisen um die Brust muss die Mauer sein oder ist es der Ring um den Kopf?

Mein Spiegelbild sieht mich an. Es übt: „Ich habe Krebs.“, sagt es. Ich habe Krebs, hahaha, sowas! Zum Glück nur mein Spiegelbild. Ich nicht. Das geht gar nicht!

Heute ist der 28.08.2018. Und am 07.09.2018 heirate ich. Da habe ich jetzt nicht Krebs. Unmöglich.