Wortlos

„Das Ei ist etwas zu weich geworden.“
„Aha.“
Ich sah zu T. rüber und wandte den Blick gleich wieder ab. Sein Frühstücksei war wirklich etwas flüssig. Meins stand noch im Eierbecher und wartete auf den Verzehr. Ich biss vom selbstgebackenen Brot ab. Es schmeckte lecker. Gestern war es noch sehr lecker, aber heute ist mein Geschmackssinn etwas gedämpft. Eine Erdbeere von der selbstgemachten Marmelade wollte hinunterrutschen. Ich hielt die Stulle etwas grader. Bleib einfach oben, Erdbeere. Einfach oben bleiben. Normalerweise würde ich sie einfach in den Mund saugen, bevor sie runterrutscht. Ich mag das Gefühl im Mund und den vollen, süßen Erdbeergeschmack.
Ich kaute, bis ich schlucken konnte und noch etwas länger, damit ich mich nicht verschlucke. Das mit der Gesundheit ist ja egal, es ist ja gesünder, wenn man gründlich kaut. Dann hielt ich den Kopf grade und schluckte und biss erneut ab. Der Mensch muss ja was essen.

T. sah schlecht aus. Grau. Die Wangen eingefallen. Und irgendwie älter als gestern. Die Augen waren eben nicht mehr gerötet gewesen, zum Glück. Dafür waren sie matt.

Wir aßen weiter.
Schweigend.
Was sollten wir auch sagen.

Den Tisch hatten wir gemeinsam gedeckt, es ging Hand in Hand. Einer kochte den Tee, der andere Kaffee. Marmelade, Honig, Wildsalami. Tomaten.
„L. meldet sich nachher. Ist erst seit ´ner halben Stunde in der Praxis.“
„Hattest du angerufen?“
„Ja.“
Die dicken Kapseln mit Omega 3- FS kamen in den kleinen Mörsertopf mit der Beschriftung der Apotheke meiner Mutter, groß wie ein Eierbecher, perfekt für all unser Zeugs, Kurkuma, Calcium- Kapseln und die Blutdruckpille und die große graue für T. Mein Vitamintrunk und der Fermenttrunk kamen auf den Tisch.
Wir ergänzten uns perfekt, wie sonst auch im Leben.
Ohne Worte.

Wir verstehen uns immer ohne Worte. Ein Blick oder auch nicht, es geht auch ohne Blicke, aber normalerweise blicken wir uns an und wissen, was der andere fühlt oder denkt. Was er will. Wenn wir uns sonst anblicken, lächeln wir und das Glück zwischen uns ist fühlbar und sichtbar. P. hatte uns mal angeschrien, mittlerweile vor langer Zeit, vor 5 Jahren oder so, wir würden uns selbst genügen und bräuchten niemand anderes. Ich weiß noch, dass wir uns ansahen und erstaunt waren, aber dieser Teenager hatte es erfasst. Ich nahm sie dennoch in den Arm, ich brauchte mein Kind auch, nicht nur T., beide Kinder brauchte ich, sie waren und sind mein ein und alles. Und doch ließ ich sie später ziehen, als sie rebellisch wurden, älter wurden, kaktusartig und schwer in den Arm zu nehmen, in der Hoffnung, dass ihre Wurzeln trotz allem was war, stark genug geworden sind. Ich war da für sie, würde es auch später sein, würde Hilfe geben, sie stützen, unterstützen auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Und T. war es auch, ein Ersatzvater.
Wir liebten. Wir lieben. Uns. Die Mädels. Unsere Eltern. Unsere Schwestern.
Einfach so.
Ohne Forderung.
Vor allem ohne „wenn … dann „.
Und beide sahen, dass eine Beziehung auch anders funktionieren kann, als sie es früher zuhause erlebt hatten. Das Liebe eben keine Rechenaufgabe ist mit einem Ergebnis in Plus und Minus, sondern bedingungslos.
Einfach.
Simpel.

Und nun verletzte ich wieder alle. Meine Eltern. Meine Kinder. Meinen Mann. Meine Schwester, deren Kinder. Freunde. Ich wollte das nicht, ich wollte niemanden traurig machen und unglücklich. Im Gegenteil.

2,5 cm ist ganz schön viel. Insbesondere in der Position, so zwischen Aortenbogen und Arteria subclavia sin., der linken großen Armarterie, und der Speiseröhre. Andere wichtige Gefäße und Nerven sind gleich daneben, Millimeter entfernt. Eineinhalb Zentimeter größer in so wenigen Wochen. Das Ding in der Lunge ist nur zwei Millimeter größer. Das wusste ich irgendwie, dass es dort nicht so arg ist. Die andere Stelle hatte sich schwer angefühlt, dunkel. Ich hatte es vorsichtshalber ignoriert, habe mich drauf konzentriert, auf den Krebs, auf seine beschi…. DNA, habe versucht, das zu verändern, wegzudenken, irgendwie. Anderen glückt es ja auch. Manchmal.
Sehr manchmal.
Also selten.
Sehr selten.
Quasi so selten, dass es eher ein Wunder ist.
Ich will auch wundern können.

Der Kaffee schmeckte mir heute gut. Das ist nicht immer so, weiß nicht warum. Aber heute schmeckt er und ich trinke ihn langsam, warm rinnt er links im Brustkorb hinab, links in der Speiseröhre. Das Gefühl ist immer noch seltsam. Aber ich bin eben schief, nicht so schlimm.
Durchfall hatte ich auch nicht. Und weiterhin keine Bauchschmerzen. Hab ich die nicht, weil Afatinib nicht mehr wirkt? Oder weil ich doch irgendetwas in den Meditationen bewirke? Exakt seitdem ich mehr meditiere, sind die Bauchschmerzen und der ganz arge Durchfall weg. Zufall?

Immerhin bin ich nicht mehr ganz so umnachtet wie gestern. Wir sind gestern runter zum Moor gegangen. Das Gras war nass und saftig grün, aber dieses dunkle Novembergrün. Pferdeäppel lagen auf dem Pfad und tiefe Abdrücke in der Erde machten ihn unebener, als er ohnehin ist. Man muss hinsehen, wo man hingeht, um nicht zu stolpern. Karnickellöcher gibt es auch, aber dieses Jahr neben dem Trampelpfad, der Bauer hatte im Frühjahr alles gepflügt. Der Wind war recht still, die Bäume wiegten ihre fast kahlen Äste wie sie wollten. Das Schilf im Moor stand braun und reglos.
Ich war vorgegangen, gleich nachdem ich ankam zuhause nach dem CT. Hatte T. geschrieben, aber er kam kurz darauf, hatte frei bekommen. Er stürzte mir weinend in die Arme, wir fielen fast um, doch wir hielten uns und der Wind jammerte etwas in der Ferne. Tränen flossen und T. schluchzte. Ich hielt ihn fest und sah den kleinen Findling vor mir und die braune Erde weiter vorn auf dem Weg, das braune Moor, die grauen Erlenzweige, so kahl. Grau der Himmel. Vorhin hatte es etwas Schneeregen gegeben, doch nichts lag davon auf der Erde. Kein Weiß.
Den Pfad sind wir zügig gegangen, wie immer, wenn wir unterwegs sind. Ich hatte erzählt. Den Befund. Unten am Moor wusste ich, T. will zurück.
„Willst du umkehren?“
„Ja. Und du?“
„Mir egal.“

Wir machten kehrt und stapften zurück, bergauf, mein Atem ging heftiger, irgendwie ist es in letzter Zeit wieder schwieriger, ich bin schlapper.

„Wie geht es Dir?“, wird öfter gefragt.
„Gut“, sag ich dann meist.
Oder soll ich sagen, schlapp? Mein Vater ist dann immer gleich in Sorge, fragt nach dem Warum und meine Mutter sagt „ach Geschen“ und erzählt sofort von etwas anderem. Es ist ja auch schwer auszuhalten und sie haben beide ganz andere Sorgen. Alterssorgen. Schlapp sein ist nicht schlimm.
Es gibt schlimmeres.
Muss ich eben langsam gehen.
Außerdem will das ohnehin niemand hören. Schlapp sein ist nicht schlimm, also ist alles gut. Sie jammert ja nur.

Gestern war ich sehr schlapp. Vor allem im Kopf. Im Geist.

Wir kuschelten uns nach der Rückkehr vom Moor gemeinsam auf die Couch, ohne sie oder uns auszuziehen, lagen eng beieinander, spürten den anderen, seine Wärme, mein Kopf an seiner Schulter. T. hielt mich fest und ich mich bei ihm und endlich konnte ich auch weinen. Wir weinten beide, hielten uns in unserer Verzweiflung fest und die Tränen flossen, bei dem einen laut, beim anderen leise, benetzen uns und sollten etwas bessern, doch irgendwann waren sie alle.

Später nahm ich mein Strickzeug- es ist ein Sommerpulli mit Lochmuster, sowas hab ich noch nie gemacht, muss mehr aufpassen als bei diesen Norwegermustern- und strickte. Mein Kopf wurde leer, ich war nur beim Stricken. Doch die Gedanken stahlen sich zwischen den Maschen durch und so machten wir uns eine Doku an über Glauben und Gott und verschiedenste Religionen. Das lenkte ab und gab uns den Boden unter den Füssen zumindest soweit zurück, dass meine Schwester abends erstaunt war. Ich erzählte ihr von der Hiobsbotschaft und sie wunderte sich, wie gefasst ich war.
Tja.

Den CT- Termin kannte niemand, niemand sollte vorher Angst haben.
P. weiß es aber nun auch. Rief auch an. Zufällig. Hoffnungsvoll hielt sie sich an meine Aussage von vor einiger Zeit, dass es noch diverse Optionen gibt.
Gibt es. Gibt es. Gibt es.

Nun ist das Frühstück lange vorbei.
T. regelt seine Sachen mit dem Job, kommt bald zurück. Nachher habe ich noch Vorstandsitzung vom Verein, da werde ich aber kaum so recht dabei sein können. Aber ich versuche es.
Und dann habe ich noch einen Termin bei der Onkologin, aber ob ich da Optionen höre? Gute? Also welche mit Sinn?

Wir warten auf den Anruf.
Ich kann irgendwie auch nicht mehr. Also mehr an Eigeninitiative. Oder gute Stimmung. Hoffnungsvoll. Ich fühle mich leer und suche irgendwo in mir meine Kraft.
Wo ist sie nur hin?
Wie machen das andere?

Vor ca. eineinhalb Jahren fiel das Wort Todesurteil. Die Metastase wäre noch kein Todesurteil.
Wenn ein Verbrecher zum Tode verurteilt wird, weiß er warum.
Wenn es kein Verbrecher war, sondern ein „Politischer“ oder ein „Fanatiker“, je nach Gesellschaft, weiß derjenige auch warum.
Doch was habe ich gemacht?????

Aber vielleicht ist es jetzt auch kein Todesurteil. Noch nicht. Und ich sitze vor allem nicht in Einzelhaft.
Trotzdem ist es einfach nur unfair.

Ich hoffe, ich kann nachher beim Meditieren meinen Verstand ausschalten, das ist so schwer…. …..

…… vielleicht passiert ja doch noch ein Wunder.

Oder ich nehme immer noch zu wenig Afatinib ein und muss wieder auf die volle Dosis…. dass wäre gut und grässlich. Und es wirkt irgendwann später nicht mehr.
Dann geht es wieder von vorne los, später.
Nicht jetzt.
Später hat mehr Optionen.
Gibt es für einen derartigen Zustand ein Wort?

2 Gedanken zu „Wortlos“

  1. Liebe Gesa,
    deine Worte bewegen mich immer sehr und ich wollte dir einfach sagen, dass ich an dich denke und dir alles Gute inklusive nötiger Wunder wünsche!

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